Geändert am: 21.02.2012
Unsere Großmutter

Die Bleispitze hatte schon eine weiße dicke Pudelhaube. Über dem Almschroffen lag ein langgezogener, glitzernder Umhang und der Rote Stein präsentierte sich, wie in ein zerrissenes Leintuch gehüllt, vor unserem Stubenfenster. Dicke graue Nebelfetzen verfingen sich auf seinen starren Schultern, zogen ihre gespenstischen Kreise über die Kronen des tiefdunklen Hochwaldes, und vereinten sich mit den lautlos aufsteigenden Nebeln des müde murmelnden Baches.

 "Gott sei Dank", sagte unser Vater mit einem versonnenen Blick auf unsere abendliche Tischrunde, "haben wir alles gut eingebracht". Die gelben und roten Erdäpfel - besonders die rauschaligen (roten) - waren gut für Schölfeler.

Aus dem vollgestampften Krautfassl entströmte der säuerliche Geruch des reifenden Sauerkrautes.

Der Holzschuppen war bis in den letzten Winkel voll harzig riechender Scheiter für den Stubenofen, sowie kleingehackter "Kentel" für den Herd.

Das Heu von den vorderen Bergwiesen füllte die Tenne bis unter die Dachsparren. Jede noch so kleine Hand wurde in diesen Wochen dringend gebraucht.

Ich hatte nun schon ein Schuljahr hinter mir und war verantwortlich für die Poldi, unsern nächsten "Ersteler". Dieses 29er Jahr war genau so grausam kalt, wie das vergangene. Wieder hatte es vierzehn Tage fast stetig geschneit. Unsere Väter und die Jungmänner der beiden Weiler schaufelten schmale Gräben von Haus zu Haus, bis hin zur Schule Widum und zum Kirchlein.

Unsere langen Wollkittel verfingen sich im Schnee, kleine Eisklumpen schlugen um die Schuhe. Wir drückten uns halb erfroren während der Schulmesse in den eiskalten Kirchenbänken zusammen.

Die Lehrerin musste uns mit eiserner Strenge im Zaum halten, wenn wir im Schulzimmer den alten Eisenofen fast umrissen. Mit klammen Fingern lösten wir die zusammengefrorenen Schuhriemen, in fliegender Hast rissen wir die langsam auftauenden Strümpfe herunter, die oberhalb der Knie mit einem Gummiband zusammengebunden waren. Mit einem wohligen Schnaufer streiften wir uns die oftmals schon brenzlig riechenden Reservestrümpfe auf der Ofenlatte über die blitzblauen Knie.

Den Kleinen kullerten oftmals die Tränen über die blaugefrorenen Backen. Wir Großen bissen auf die Zähne. Die Buben mit ihren dicken Lodenhosen und Gamaschen hatten es besser. "Dafür müssen wir auch vorauswaten", verteidigten sie sich.

Manchmal durften wir Mädchen über Mittag bei der Großmutter bleiben. Auch die andern Kinder hatten ihre Omi's, Tanten oder Onkel im Schuldörflein.

Unsere Großmutter war damals schon sehr krank und lag in ihrem großen Bett in der warmen Stube. Immer noch trug sie ihre schon spärlichen eisgrauen Haare, exakt gescheitelt, mit einem schwarzen Samtband um den Kopf gebunden. Sie kritisierte immer noch mit ihrem zahnlosen Mund an uns herum, doch sie kramte auch jedes Mal ein verpapptes Zuckerlesackl unter dem Kopfpolster hervor. An diese "Kaisers-Brustkaramellen" dachte ich noch, als die Erinnerung an Großmutter längst verblasst war. Sie starb auch in jenem kalten Winter. Die Fenster in der alten Stube wurden mit schwarzen Tüchern verhängt. Auf einem, mit weißen Spitzentüchern zugedeckten Schragen, lag sie aufgebahrt. Ein wunderschönes schwarzes Kleid mit vielen Falten und Stickereien deckte sie ganz zu. Nur das fast ein wenig lächelnde wächserne Gesicht unter dem Spitzenhäubchen konnte man sehen.

Das gemeinsame Rosenkranzgebet in der überfüllten Stube erinnerte mich an den dumpf murmelnden Bach unter der dicken Eisplatte.

Ich aber konnte keinen Blick von ihrem Gesicht lassen.

"Wo hat sie das schöne Kleid her"? "Das war ihr Hochzeitsgewand", erzählte mir Mutter.

Eng zusammengedrängt standen wir um das schwarze Loch und wärmten unsere klammen Finger an den tropfenden Wachslichtlein. Die vier Männer senkten die schwarze Truhe in die Grube, steinharte Erdklumpen polterten drauf hinunter. Mutter stand eng bei den Tanten, Vaters Schwestern. Ihre langen schwarzen Röcke streiften im Schnee. Frierend zogen sie ihre schweren Wolltücher um die Schultern, drückten die weißen Taschentüchlein an die Augen, die man unter den Hüten kaum sehen konnte.

Wir liefen oft zum frisch zugeschaufelten Grab. Der Schnee hatte die Papierblumen an den Kränzen aufgeweicht und bizarre blaue, rote und gelbe Figuren auf den weißen Hügel hingemalt.

Im Beinhaus hinter der Kirche war nun ein neuer Totenkopf. Einer, der ein kreisrundes Loch im modrig braunen Schädel hatte. War's ein Wilderer aus längst vergangenen Tagen, oder einer der Helden, der die Heimat vor Räuber und Wegelagerer verteidigte? Der "Huamgard" an langen Winterabenden war um eine Legende reicher geworden.

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