Geändert am: 21.02.2012
Erinnerung an daheim

 

 Ein geistlicher Herr berichtete um 1800 "von einem Pfad in eine schaurige Schlucht, die etwas tiefer drinnen durch einen Bergvorsprung in zwei Tälchen gespalten ist. Da erheben sich zwei kleine Ortschaften, Kleinstockach und Bichlbächle. Sie kleben an so aufsteigenden Halden, dass die Hennen Steigeisen brauchen".

Nun möchte ich den Chronisten nicht weiter interpretieren. Das zweitoberste der neun schindelgedeckten Häuser, die im Schutz eines uralten düstergrünen Bannwaldes schon viele Generationen überdauerten, ist mein Elternhaus. In früheren Zeiten muss es ein Blockhaus gewesen sein.

Mein Vater musste notgedrungen etwas Platz für seine immer größer werdende Familie schaffen. Dabei stieß er beim Aushub eines Kellers auf verkohlte Holzbalken und Reste eines Gewölbes. Vielleicht hatte unser Hausname "beim Brisl" etwas mit Brand oder brenzligem Geruch zu tun. Möglicherweise war das verkohlte Gewölbe ein alter Käsekeller. Teils aus Chroniken, teils nach Erzählungen sei diese Gegend um 1500 eine Schafalm des Klosters Stams gewesen. In grauer Vorzeit sollen diese Almen wahrscheinlich durch Schenkung Eigentum dieser treuen Hirten geworden sein.

Mit hochroten Ohren lauschten wir den Erzählungen unserer "Alten", und wühlten im verkohlten Kellergewölbe nach einem Stück Vergangenheit. Mutter hatte große Mühe, uns nach solchen Expeditionen halbwegs sauber zu schrubben. Dazu steckte sie uns nacheinander in einen großen Waschzuber in der Rauchkuchl. Wir waren unser sechs im Alter von zwei bis acht Jahren. Beim letzten wird das Wasser nur mehr "naß" gewesen sein. Ich kann mich nicht erinnern, dass uns das etwas ausgemacht hätte.

Unsere Mutter hatte es nicht leicht in der Dorfgemeinschaft. Vater hatte sie in jungen Jahren vom Inntal heraufgeholt. Sie blieb auch noch die "Zuagroaste", als schon Silberfäden ihre Haarkrone durchzogen. Sie war wie eine fremde Blume im rauen Tal, mit ihren großen Augen im vom Kummer gezeichneten Gesicht. Wir liebten sie heiß. Sie sang uns abends beim Spinnrad wunderschöne Lieder. "Mutter, erzähl' uns doch noch die Geschichte vom verwunschenen Schloss und vom Geist auf dem Schrofenstein" bettelten wir, wenn's uns auch jedes mal kalte Schauer über den Rücken jagte.

Wir weinten bittere Tränen, wenn sie wieder und wieder ins Krankenhaus musste. Die Tage ohne sie wurden zu Ewigkeiten. Großmutter aus dem Nachbardorf versorgte dann immer unsern Haushalt. Mit der großen Schürze um ihren dicken Bauch, die eisgrauen Haare straff zurückgekämmt. Die strengen Augen und ihre kratzige Stimme waren für mich das Abbild von Mutters Hexengeschichten. Ich hasste sie geradezu glühend mit meiner fünfjährigen Kinderseele. Das nicht nur, weil sie mir beim Zopfen wie ich glaubte, büschelweise meine "widerspenstigen Strohborsten" - wie sie meine Haare bezeichnete - ausriss, sondern auch weil ich mit meiner ewigen Horcherei an der Stalltür hörte, wie sie zum Vater sagte "Siegfried, hättest eine Hiesige geheiratet, stündest heut' besser da. Nichts wie einen Haufen Geld kostet dich die ewig Kranke".

Dabei war unser Vater so ein herzensguter Mann. Die Sorge um seine sechs hungrigen Rangen hatte tiefe Runen in sein hageres Gesicht gegraben. Wenn wir beim abendlichen Rosenkranz um die rohgezimmerte Bank vor dem Herrgottswinkel knieten, galten seine innigen Bitten genauso den zwölf Stück Vieh unter dem gleichen Dach, welche die absolute Lebensgrundlage für seine achtköpfige Familie waren. Auch wenn wir Kinder dem allabendlichen Rosenkranz nicht viele positive Seiten abgewinnen konnten, unter der Bank einander zupften und kicherten, womit wir uns bisweilen Ohrfeigen einhandelten, so betete ich doch aus tiefstem Kinderherzen; "wenn ich einmal groß bin, tue ich alles für Vater und Mutter".

- Kinderträume -

Nicht nur! Jahrzehnte später haben meine Eltern im Heim meiner Familie einen überaus harmonischen langen Lebensabend genossen, dessen Krönung ihre Goldene Hochzeit war. Es ist uns mit viel Liebe gelungen

„Alte Bäume umzupflanzen“.

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