Geändert am: 21.02.2012
Die Stiefel da oben

Mitte der sechziger Jahre erwachte Brandegg aus dem Dornröschenschlaf. Wachgerüttels von den Wirtschaftswunder-Ideen der immer wiederkehrenden deutschen Urlaubsgäste.

Unsere Heimat war in ihrer bezaubernden Natürlichkeit ein kleines Paradies. Der samtgrüne Talkessel mit seinen unzähligen, verwitterten Heuhüttchen, dem dunkelgrünen Klammsee am Waldrand, seinem tiefgründigen Wasser, in dem sich die zerzausten Tannenkronen und der wildzerklüftete Kranz der rissigen Kalksteinwand spiegelten. Auf der Sonnenseite erhebt sich der Grasberg über 2000 Meter, unterbrochen vom tiefen Einschnitt der Kaltenbrunnschlucht, durch die seit undenklichen Zeiten ein Fußpfad, der Schmugglersteig zum Weiler Hochegg führt. Am Ausgang dieses sagenumwobenen Grabens der Hexen und Bergmanndln hatten sich unsere Ahnen vor Jahrhunderten ihre wetterfesten Blockhäuser am Ufer des wild schäumenden Gletscherwassers hingebaut. Sie deckten die Dächer mit Lerchenschindeln und beschwerten diese mit Steinen aus dem tief ausgefressenen Bachbett. Auf einem kleinen Grashügel am Ausgang des Dorfes thronte das spitzgiebelige Kirchlein.

Hingebettet in unseres Herrgotts Nachbarschaft lag behäbig der altersschwarze Kirchenwirt, mein Elternhaus. Hier war der Treffpunkt unserer Feriengäste, war Start und Ziel ihrer Wanderungen. Hier wurden Heimatabende veranstaltet, aber auch gestritten und argumentiert. „Wacht doch endlich auf, euer Dorf hat Zukunft“ oder „wir brauchen die neumodischen Hotelburgen nicht, die entlang der Fernstraße aus dem Boden schießen“, ereiferten sich die Alten. „Man kann trotz Neuerungen der Tradition treu bleiben“, konterte die Jugend. Am Stammtisch brandete wieder eine heftige Diskussion über Dorferneuerung auf. Ich flüchtete auf den Balkon. Die Abendsonne warf lange Schatten über die hohen grünen Hänge.

Alex war mir nachgegangen. „Mutter, ich muss mit dir reden“. „Was ist los“, fragte ich etwas müde. „Ich möchte heuer mit dem Umbau anfangen“. „Ich weiß, du hängst an dem Alten, doch musst du verstehen, dass wir mit der Zeit gehen müssen.“  Mein Blick wanderte das Dorf entlang. In den kleinen Butzenfenstern, diesen blinkenden Augen zwischen den altersgrauen Balken, spiegelte sich die Sonne, ehe sie sich hinter dem rosa verbrämten Betttuch der Kalksteinwand schlafen legte.

1940 heiratete ich. Helmut bekam für unsere Kriegstrauung vierzehn Tage Heimaturlaub. „Unser Hochzeitsgeschenk ist dieses Haus“, sagte Vater damals mit Tränen in den Augen. „Wir freuen uns auf das Kind“ flüsterte mir Mutter ins Ohr. Ich war gerade 20 Jahre alt, als fünf Monate später das Kind auf die Welt kam und sein Vater längst vom grauenhaften Kriegsgeschehen eingeholt war.

Jäh aus meinem Traum erwachend schaute ich zu Alex und Andrea. Er legte liebevoll den Arm um seine junge Frau. „Ja, Kinder, mit heutigem Tag lege ich alles in eure Hände“. So leicht kamen mir auf einmal die Worte über die Lippen. „Wir werden auch bald eine gute Oma brauchen“, meinte Andrea lachend.

Mit vereinbarter Nachbarschaftshilfe begann Wochen später der Umbau. Beim Abtragen des alten Stadels kamen die Stiefel zum Vorschein. „Alex schrie aufgeregt, „schau, Mutter was wir gefunden haben“. Ich stand wie vom Blitz getroffen. Momentan wurde mir schwarz vor Augen. Die Männer starrten mich an. „Gib her“ stotterte ich, „heut Abend sag ich euch, wem die Schuhe gehörten“. Ich nahm die staubigen, stockfleckigen Stiefel in die Arme und trottete mit weichen Knien in meine Kammer. Im Dorf sprach sich der seltsame Fund beim Kirchenwirt rasch herum. Kein Wunder, dass zur Feierabendstunde das ganze Dorf hier versammelt war. Ich lehnte an der Ofenecke beim Stammtisch. Alle Blicke hingen an mir. So begann ich zu erzählen.

„In dem Stadel, den wir heute abtrugen, hatte schon viele Monate vor Kriegsende die Schuhfabrik Neuner einen Großteil ihres Lagerbestandes an Berg- und Skischuhen deponiert. Zugedeckt unter einem Heuberg glaubte der Fabrikant, seine Schätze unbeschadet durch den Krieg zu bringen.
Die Front rückte unaufhaltsam näher. Die widersprüchlichen Nachrichten aus dem Volksempfänger meldeten Kampf und Sieg, die verbotene Drehung weiter totale Niederlage und Auflösung der Front. Unsere paar Männer vom Dorf brachten Frauen, Kinder und Alte – auch deine Großeltern und dich – „ ich nickte Alex zu, „über den Schmuggelsteig zu den Hohenegger Nachbarn.

Nun war ich mit Josef allein im Haus. Einige von euch werden meinen asthmakranken Cousin noch gekannt haben?“ fragte ich in die mäuschenstille Stube hinein. Die alten Heimkehrer hinten auf der Ofenbank nickten mir zu.
„Die zurückströmenden Soldaten brauchten Hilfe. Es war kalt in den Apriltagen 1945. Da kam uns das Schuhlager in den Sinn. Josef und ich plünderten den ganzen Schuhbestand. Wir rissen Leintücher zu Schuhfetzen, halfen den verdreckten, müden Landsern, kochten Tee und schickten sie in die noch tief verschneiten Hochtäler abseits der Durchgangsstraßen. Das Ausmaß unserer nächtlichen Tätigkeit war eine schwarze Pyramide vertretener Schuhe mit herunterhängenden Sohlen. Todmüde ließen wir uns auf die Bank im Hausgang fallen. Ich hatte jeden Zeitbegriff verloren. Plötzlich stand ein Offizier in brauner Uniform vor uns. „Heil Hitler“, seine Hand zuckte nach oben. „Ich brauche ein Paar Bergschuhe“. Wir haben keine mehr, stotterte ich verdattert.  „Und das dort ?“. Er deutete auf den Schuhberg vor dem Stadltor. „Das ist ein dienstlicher Befehl“. Er zog die Pistole. Wie zwei sprungbereite Tiger gingen er und Josef aufeinander los. Mit dem Mut der Verzweiflung rammte ich ihn in die Seite. Wie es dann kam, weiß ich nicht. Hatte ihm Josef ein Bein gestellt? Jedenfalls schlug er so unglücklich mit dem Kopf an das Stiegengeländer, dass er bewusstlos war und stark blutete. In wilder Hast schleiften wir ihn in die Wäschekammer. „Marianne, kümmere dich um ihn, ich lasse den Schuhberg verschwinden.“ Ich wickelte einen Fetzen um seinen blutenden Kopf. Er blinzelte, muss aber noch nicht ganz bei Sinnen gewesen sein, sonst wäre es mir sicher nicht gelungen, ihn auf den Boden zu drücken. Die Schüsse der näher rückenden Front hörten sich wie ein Hochgewitter in unseren Bergen an. Gott sei Dank kam Josef, als er sich hochstemmte und zu seinen Leuten wollte. Josef warf ihm ein Bündel hin. „Zieh das an, wir wollen dir nur helfen.“ „Mit euch rechne ich noch ab“, hörten wir, als wir die Tür von außen zusperrten. Die ersten Geschosse durchlöcherten unseren Kirchturm. Der Junge aus der Wäschekammer im verbeulten Lodenjanker und den grob genagelten Schuhen folgte uns mit wildrollenden Augen in den Keller. Das Fenster ging bei einem krachenden Einschlag in Scherben. Wir kauerten eng zusammengedrückt auf einem Erdäpfelhaufen. „Wie heißt du?“ „Das geht sie nichts an“, fauchte der lauernde Fremde. Gegen zwei Uhr früh wurde es totenstill. „Komm Marianne, wir gehen schauen“. Hand in Hand schlichen wir durch das zerschossene Dorf. Leere Fensterhöhlen grinsten uns an, zerfetzte Dachschindel lagen wie Ahornlaub im November auf der aufgerissenen Straße. „Komm heim“, sagte Jos unendlich müde. Er hängte ein Leintuch aus einem zersplitterten Fenster. Ich schlich in die Wäschekammer, nahm die Stiefel und versteckte sie hinter einem Dachbalken im Heustadel. „Der Vogel ist ausgeflogen“. Josef kam schwer schnaufend vom Keller herauf. Bei Tagesanbruch kamen die Sieger hoch zu Ross und trieben die Gefangenen wie eine Herde Vieh vor sich her. Im Nu war unser Haus voll wild durcheinander gestikulierenden Marokkanern. „Dieses Haus ist beschlagnahmt“, schnarrte einer in gebrochenem Deutsch. Ein anderer bearbeitete mit dem Gewehrkolben einen Kasten. Ich warf dem wild darauf Loshämmernden meinen Schlüsselbund zu und ging müde hinaus.“

Meine Erzählung hatte die Vergangenheit heraufbeschworen. Still und nachdenklich gingen alle heim. Die junge Generation hat es mit viel Liebe und gemeinsamem Fleiß verstanden, Tradition und Moderne zu verbinden. Die Stiefel auf dem Ehrenplatz hinter dem Stammtisch vergaß man wieder.

Das Heranwachsen meiner Enkel erfüllte mich mit inniger Freude. Über die Ursula, unseren ältesten Blondschopf, mussten wir oft heimlich lachen. Sie wirbelte durch die Gaststube und verstand es wie keine Zweite, die Gäste für sich einzunehmen.

„Omi, der Herr da drüben am Stammtisch möchte dich sprechen.“  Ich kannte viele Leute, den großen hageren weißhaarigen Herrn, der sich lächelnd über meine Hand beugte, kannte ich nicht.

„Rudolf Hartmann.“ „Ich sagte ihnen damals meinen Namen nicht.“ Wie ein Blitz durchfuhr mich jähes Erkennen. Haltsuchend verkrampften sich meine Hände um die Tischkante.  Behutsam drückte er mich auf den Stuhl. „Die Stiefel da oben?“ „Ja das sind ihre.“ „Darf ich?“ Zutiefst erschüttert nickte ich. Er legte seine schmalen, zittrigen Hände um die alten speckigen Stiefelschäfte und hatte seine Umwelt vergessen.