Geändert am: 21.02.2012
Erster Schultag

 

"Aufsteh'n Kinder", Mutter zog uns die Bettdecken weg. Wir lagen, wie Igel zusammengerollt, in den warmen Mulden der Strohsäcke und blinzelten sie verschlafen an. Sie leuchtete einem nach dem anderen mit der Petroleumfunzel die knarrende Stiege hinunter. Das zuckende Licht warf gespenstische Schatten über das klebrig glänzende Gewölbe der düsteren Rauchkuchl. Im Herd knisterte ein wärmendes Feuer, auf dem Bankl daneben stand die Waschschüssel.

 Friedl war schon sehr selbständig. Bei Max bedurfte es des öfteren einer kleinen Nachwäsche. Meine widerspenstigen Haare bändigte sie zu einem großen Zopf mit einer blauen Masche.

Wir löffelten gemeinsam eine Schüssel Milch mit Brocken leer. Ich schaute mich in Vaters Rasierspiegelchen von allen Seiten an, mit meiner blumigen Schulschürze und dem Rucksackl, aus dem der Tafelschwamm lustig hin und her pendelte. "Mach schon, du blöde Urschl" schimpfte Max. Der hatte ja sonst mit der Lernerei nicht viel im Sinn und war dank Mutters vielen Entschuldigungsschreiben mit Ach und Krach durchs erste Schuljahr gekommen. Er versteckte sich lieber einen halben Tag im Kuhstall, oder baute Dämme am nahen Kaltenbrunnbach. "Friedl, pass' mir auf die Heidi auf". "Da braucht's ihr kuun Kummer haben", antwortete dieser, während sie uns ein Kreuzlein auf die Stirn zeichnete. Unser Friedl, der schmächtige Blondschopf, war Mutters Garant für unseren Schulweg und absoluter Rekordhalter für Bildchen und Fleißzettel in der Schule. Armella und Helga vom obersten Haus warteten schon. Beim neunten Haus waren wir dann eine lustige, lärmende, 10-15-köpfige Schar und trampten mit unsern Grobgenagelten über einen steilen Wiesenhang der Schule zu.

Das altersschwarze Holzhaus lag am Ende des Weilers an einem abschüssigen Berghang. Ein dichter Mischwald schlanker Buchen und knorriger Rottannen wies die Lawinen am Dörflein vorbei in den tief unten rauschenden Talbach.

Ich war hingerissen von der großen Fensterfront im Klassenzimmer, im Gegensatz zu unseren Guggerlen daheim in der Stube. Vor den beiden Bankreihen auf einem Podium thronte der Schreibtisch, daneben die große schwarze Tafel, dahinter in der Wand eingelassen der geheimnisumwobene Wandkasten. "Da sind die Zeugnisse drin" wussten die "Großen". Ein riesiger schwarzer Ofen mit einer dicken Holzstange rundherum nahm die ganze Ecke ein. Mein ganzes Interesse galt den riesigen Landkarten an der Türwand. Als wir schon in Zweierreihen für den Kirchgang aufgestellt wurden, konnte ich es nicht lassen, ganz schnell die Weltkugel auf dem runden Tisch hinten in der Ecke zu drehen.

Das weiß gestrichene Kirchlein mit seinem Pyramidendach und dem eckigen Turm waren mir vertraut. Seit ich denken konnte, kam ich mit den Eltern und Geschwistern Sonntag für Sonntag hier hin. Ebenso vertraut und immer wieder aufregend war das Beinhaus am hintersten Ende des Gottesackers, der das Kirchlein einfriedete. Wenn es uns auch jedes mal die Gänsehaut aufzog, konnten wir es nicht lassen, unsere Gesichter an die Ritzen des Bretterverschlages zu drücken, hinter denen uns die Totenköpfe angrinsten. Ich war auch schon mit dem alten Mesner auf der Empore und durfte Blasebalg treten, was normal den Buben vorbehalten war.

Heute mussten diese besonders nachhaltig treten. Gigantisch schien mir die musikalische Umrahmung der H1. Messe.

Die Engelein um das Muttergottesbild auf dem Hochaltar leuchteten heute besonders golden, und der große Vogel unter dem Loch des Kirchendaches schien mit seinen weißgrauen Flügeln ganz leise zu schlagen, als der Hochw. Herr hoch von der Kanzel den H1. Geist auf die Schülerschar herab beschwor.

Wie eine Herde Schafe drängten wir zur Schule. Erwartungsvoll legten wird Erstlinge die Schiefertafel vor uns auf die Bank, die wunderschön in buntem Papier eingewickelten Griffel in die tiefen, mit allerlei Mustern verzierten Rillen. "Ja, ja, unsere Eltern und Großeltern waren auch einmal Schulkinder". Voller Stolz verstaute ich das erste Lesebuch im Rucksackl. Als uns dann noch der Hochw. Herr ein wunderschön bebildertes Religionsbüchlein gab mit dem Befehl, "überlasst es nicht den kleineren Geschwistern zum Spielen", gab's daheim oft Gezeter und Rauferei, wenn die fünfjährige Poldi oder gar der dreijährige Toni mit seinen verschmierten Patschhändchen "Bildchenschauen" wollte.

Das Nachbarhaus der Schule gehörte der Großmutter. Sie winkte uns aus dem Fenster zu, als wir lärmend und lachend aus der Schule stürmten.

Mit beiden Armen fuchtelnd winkte ich zurück. Die aufgestauten Rachegefühle in meiner Kinderseele waren gegenstandslos geworden.

Mit einem Mal fühlte ich mich sehr erwachsen.  

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